Inschriften der Kantonsschulturnhalle – Wie kommen die hier hin?

Am Fusse der Alten Kantonsschule Zürich stehen heute zwei Steintafeln mit goldenen Inschriften. Sie gehörten ursprünglich zu einer 1880 erbauten, heute nicht mehr existierenden Turnhalle am Heimplatz und waren während über 100 Jahren Zeugen des architektonischen Wandels rund um einen von Baudenkmälern, Verkehrsaufkommen und Machtverschiebungen geprägten Platz. Auch das Engagement der Zürcher Regierung und Bevölkerung hinsichtlich der Gestaltung des Heimplatzes, grosse städtebauliche Ideen sowie der Umgang mit Denkmälern lassen sich anhand der Geschichte der Steintafeln erzählen.

Die Kantonsschule: Anfänge einer Platzgestaltung

Diese Geschichte über Bauten und Abrisse rund um den heutigen Heimplatz beginnt vor knapp 200 Jahren, als die Stadt Zürich als mauer- und turmbewehrte Festung an der Mündung der Limmat ruhte. Rechts des Flusses verlief die barocke Stadtmauer vom See her entlang des Schanzengrabens über die Hohe Promenade hin zum Heimplatz und weiter über die Kantonsschulstrasse zur Universität und Polyterrasse. Das Areal des heutigen Heimplatzes lag also direkt an der Befestigungsanlage (Schanze) im nordöstlichen Gebiet der Stadt, an der Grenze zu Hottingen.

Abb. 1: Die Befestigungsanlagen schützen die Stadt Zürich und gewährleisten die Kontrolle über deren Zugang, Zürich um 1800, Bild: ikonaut/Oculus Illustration/AfS Stadtarchäologie.

Mit der 1831 neu eingeführten Kantonsverfassung gingen gewaltige Machtverschiebungen einher, welche sich auch städtebaulich in Zürich manifestierten. Neu bestimmte die zahlenmässig überlegene Landbevölkerung über die Stadt. Der Konflikt um deren Zugang entfachte sich an den Schanzen. Gegen den Willen der Stadtbevölkerung stimmte der Grosse Rat (heute Kantonsrat) 1833 dem Abbruch der als Machtsymbol gesehenen Stadtmauern zu. Dies ebnete den Weg für die Expansion und umfangreiche Entwicklung der Stadt, welche sich im Kleinen auch am Heimplatz nachvollziehen lassen.

Abb. 2: Der Abbruch der Befestigungsanlagen schafft Platz für den Bau der Kantonsschule (rechts angeschnitten) und die dazugehörige weitläufige Turnanlage (Bildmitte), Zürich um 1860, Bild: ikonaut/Oculus Illustration/AfS Stadtarchäologie.

Die Verfassung verlangte auch nach Neubauten, unter anderem für das Bildungswesen. Das neue Unterrichtsgesetzt regelte das gesamte Unterrichtswesen, womit für die neu zu schaffenden Institutionen entsprechende Gebäude erstellt werden mussten. In diesem Zusammenhang entstand im Jahr 1842 die Kantonsschule nach Plänen von Gustav Albert Wegmann (1812–1858) auf der Anhöhe des ehemaligen Rämibollwerks. In Anlehnung an Karl Friedrich Schinkels Bauakademie in Berlin baute Wegmann die Kantonsschule als Vierflügelanlage mit massiven Zwischenwänden, welche die Fassaden entlasteten und grössere Fenster ermöglichten. Der klassizistische Bau thronte über einem langgestreckten, begrünten Turnplatz mit einem Turnschopf im Südwesten (Abb. 3). Seit 1981 ist die Alte Kantonsschule im kantonalen Denkmalinventar verzeichnet.

Abb. 3: Mitte des 19. Jahrhunderts thronte die Kantonsschule auf dem Rämibollwerk über einem Turmschopf und dem Wolfbachbassin. Kolorierter Stich von 1849, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Die weitläufige Turnanlage wurde bereits 1875 verkleinert und das den Wolfbach ausgleichende Wolfbachbassin eingeebnet. Zugunsten einer neuen Platzanlage wurde der südliche Teil des Kantonsschulgeländes wieder an die Stadt abgetreten. So entstand eine mit eine Vorform des heutigen Heimplatzes, damals noch «Kantonsschulplatz».

Abb. 4: Ausschnitt aus der Siegfriedkarte von 1880, Massstab 1:5000, erkennbar die Kantonsschule mit ihrer weitläufigen Turnanlage. Durch ihre Verkleinerung im Süden entstand inmitten der neu erstellten Platzanlage eine grüne Wiese, maps.zh.ch.

Die Turnhalle von 1880: güldene Inschriften

Abb. 5: Die Kantonsschulturnhalle in der vorderen Mitte des Bildes von 1880 an der neu gestalteten städtischen Platzanlage (heute Heimplatz). Fotografie von 1896, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

1880 entstand nach Plänen des Staatsbauinspektors Otto Weber (1844–1898) ein Neubau als Erweiterung des bestehenden Turnschopfs (Abb. 5). Der eingeschossige Bau auf langrechteckigem Grundriss war im neoklassizistischen Stil erbaut und stiess direkt an die wenige Jahre zuvor erstellte Platzanlage. Für eine Turnhalle hatte das Gebäude eine ungewöhnlich repräsentative Fassade, die Ausdruck der politischen und schulischen Umwälzungen während der Regenerationszeit war. Der platzseitige Haupteingang war von zwei heute noch erhaltenen Inschriftentafeln eingefasst, die von einem Löwenkopf getragen wurden.

Die linke Tafel zieren die Lettern: «sit mens sana in corpore sano» («Es sei ein gesunder Geist in einem gesunden Leib»). Der Spruch, der gut zu einem Ort der sportlichen Ertüchtigung passt, entspringt einem religiösen Kontext. Die Zeilen stammen aus einer Satire von Juvenal aus dem frühen 2. Jahrhundert. Darin mahnt der Autor, die Götter nicht unvernünftigerweise um vermeintliches Glück anzubeten, sondern sie einzig darum zu bitten, dass «da sei ein gesunder Geist in einem gesunden Leib». Erst im frühen 19. Jahrhundert wurde «Mens sana in corpore sano» auf Friedrich Ludwig Jahns (1778–1852) Turnplätzen zum Bannerspruch der jungen Turnbewegung umgemünzt. Das Schrifttafel-Pendant auf der rechten Seite erklärt mit einem Zitat aus Senecas Altersbriefen: «Non est vir fortis qui laborem fugit» («Das ist kein tapferer Mann, der die Anstrengung scheut.») – idealtypischer Ausdruck der strengen zwinglianischen Arbeitsmoral Zürichs.

Das Denkmal für Ignaz Heim: Vom Kantonschulplatz zum Heimplatz

Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstarkende Bürgertum engagierte sich zunehmend kulturell, was sich unter anderem in der künstlerischen Ausgestaltung der Stadt niederschlug. So auch an unserem Platz, wo 1883 gegenüber der Steintafeln das Denkmal für den Komponisten und populären Förderer des Volksgesangs Ignaz Heim errichtet wurde (Abb. 8). Initiant der steinernen Büste war der Schweizerische Sängerverein, realisiert wurde sie vom Schweizer Bildhauer Baptist Hoerbst (1850–1927). Die Errichtung des Denkmals auf einem öffentlichen Platz war ein Zeichen des Aufstrebens des Bürgertums, hier in Form des Sängervereins. Die Büste kann in einer Reihe mit anderen Denkmälern dieser Art betrachtet werden, welche im Stadtzürcher Kontext auf einer Wiese oder neben einen Baum gestellt wurden, wie beispielweise die Denkmäler für Heinrich Pestalozzi und Huldrich Zwingli. Nach der Aufstellung des «Heim-Denkmals» sollte noch fast eine Dekade verstreichen, bis das Areal 1892 seinen bis heute offiziellen Namen «Heimplatz» erhielt.

Abb. 9: Auftritt des Posaunen-Sextett «Sonnenblume» vor dem Denkmal für Ignaz Heim, Fotografie von 1902, Adolf Moser, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Das Volkstheater zum Pfauen: «Entrée» zu Hottingen

Aber nicht nur in Denkmälern, auch in Neubauten bildete sich das zunehmend erstarkende Bürgertum ab. Dem Gastwirt Heinrich Hürlimann (1841–1910) gelang es beispielsweise, mittels Gründung einer Aktiengesellschaft genügend Investoren für seine Vision zu finden: ein Theaterbau samt Wohnungen und Restaurant am Heimplatz. Den Auftrag für den Baukomplex erhielten die berühmten Architekten Alfred Chiodera (1850–1916) und Theophil Tschudy (1847–1911). Für eine der ersten bis heute erhaltenen Arealüberbauungen Zürichs wurden einige bestehende Gebäude, u.a. das jahrhundertealte sogenannte Steinhaus, abgebrochen. 1889 eröffnete das «Volkstheater zum Pfauen». In der Saison zur Jahrhundertwende folgte mit dem Umbau durch die Architekten Ferdinand Fellner (1847–1916) und Hermann Helmer (1849–1919) die Umbenennung zum «Pfauentheater». 1926 wurde das Theater von Otto Pfleghard (1869–1958) schliesslich zum Schauspielhaus umgebaut.

Der Pfauenkomplex ist Teil einer vierstöckigen Blockrandbebauung im neobarocken Stil, die sich städtebaulich als Eingangstor zum neuen Stadtquartier Hottingen präsentiert (Abb. 10). Für den Heimplatz prägend ist die repräsentative Schaufassade aus Haustein, die den Platz im Osten begrenzt. Das Theater tritt hier durch den reich gestalteten und leicht hervorspringenden Mittelbau selbstbewusst in Erscheinung. Der Eingang ist durch ein säulenflankiertes, als Triumphbogen ausgestaltetes Portal gekennzeichnet. Zwei Pfauenfiguren schmiegen sich links und rechts an den Torbogen. Im Giebelfeld steht das reich verzierte Zürich-Wappen. Bekrönt wird der Mittelbau durch eine Frauenfigur – wohl Thalia, die Muse der Komödie –, die ihre Hand auf die aufgefächerten Federn eines Pfaus legt (Abb. 11). Heute ist der Bau im Denkmalinventar der Stadt Zürich verzeichnet.

Die zweite Kantonsschulturnhalle: Eine neue städtebauliche Verbindung

Zurück zur Turnanlage. 1902 wurde östlich der ersten eine zweite Turnhalle nach Plänen der Architekten Jacques Kehrer (1854–1908) und Karl Knell (1853–1901) errichtet (Abb. 13). Hinsichtlich Grösse und Gestaltung war sie mit jener von 1880 fast identisch. Ihre Fassaden waren jedoch in Sichtbackstein ausgeführt und die in die Frontseite eingelassenen Steintafeln blieben unbeschriftet.

Abb. 13: Die Jugend ertüchtigt sich auf dem Turnplatz vor der soeben erstellten zweiten Kantonsschulturnhalle, Fotografie von 1902, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Die zweite Kantonsschulturnhalle wurde bewusst parallel zur ersten angelegt. Die beiden Hallen waren in ihrer Symmetrie als vorgelagerte Flügelbauten auf die Schule bezogen. Gemeinsam bildeten sie den Auftakt einer Hauptachse vom heutigen Heimplatz in Richtung Freitreppe und Haupteingang der Kantonsschule. Damit wurden der Heimplatz und der Turnplatz als ineinandergreifende Räume verbunden und die zunächst isoliert auf dem ehemaligen Rämibollwerk stehende Kantonsschule in die Platzgestaltung integriert (Abb. 13). Eine solche Gliederung von zwei Platzsituationen durch freistehende, aufgelockerte Bauten war in Zürich einmalig.

Abb. 14: Die Kantonsschulturnhallen bilden eine Achse vom Heimplatz zur Kantonsschule, Fotografie von 1908, Adolf Moser, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Der Moser-Bau: Kunsttempel und Statussymbol

Während hinter dem Bau des Schauspielhauses eine auf Privatinvestitionen gestützte Gründerpersönlichkeit stand, organisierte sich beim Bau des Kunsthauses die Bauherrschaft als Gruppierung: Die Zürcher Kunstgesellschaft, 1896 aus der Fusion der altehrwürdigen Zürcher Künstlergesellschaft und dem jungen Verein Künstlerhaus hervorgegangen. Noch im 19. Jahrhundert führte sie eine eher kleinstädtisch anmutende Kultureinrichtung in Form eines Treffpunkts für die lokale Oberschicht, wo diese Zürcher Kunstschaffen betrachten konnte. Als die bis heute anhaltende Sammlungstätigkeit zu erheblichem Platzmangel führte, begannen langwierige Bemühungen, in der Innenstadt einen Ort für den Bau eines Kunsthauses zu finden. Der lang ehrsehnte Bauplatz fand sich schliesslich um 1900. Das Lindentalgut zwischen Heimplatz und Hirschengraben war der Stadt Zürich vermacht worden. Die Witwe des Erblassers, welche das Wohnrecht in der Villa auf dem Lindentalgut besass, willigte ein, den nördlichen Teil der Gartenanlage zwischen Rämistrasse und Heimplatz für ein neues Kunsthaus zur Verfügung zu stellen.

Abb. 15: Luftaufnahme während des Baus des Kunsthauses auf dem Areal des Lindentalguts, linkes unteren, Fotografie von 1909, Eduard Spelterini, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Da die Kunstgesellschaft mit dem Ergebnis des ersten Architekturwettbewerbs unzufrieden war, wurde ein zweites Mal ausgeschrieben. 1904 entschied Karl Moser (1860–1936) das Rennen schliesslich für sich. Zwei Jahre später wurde in einer Volksabstimmung eine Beteiligung der Stadt beschlossen. Mit Vertrag vom 28. Mai 1906 trat die Stadt Zürich das Areal zwischen Heimplatz, Rämistrasse und Hirschgraben der Zürcher Kunstgesellschaft unentgeltlich ab und leistete zudem einen Baukostenbeitrag von 100 000 Franken. 1907 begannen die Bauarbeiten. Mit dem Kunsthaus am Heimplatz legte die Kunstgesellschaft – mit kräftiger Unterstützung der Stadt – den Grundstein für ein Museum mit nationaler Ausstrahlung.

Abb. 16: Das Kunsthaus Zürich kurz nach seiner Eröffnung. Fotografie von 1910, Friedrich Ruef-Hirt, Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Abb. 17: Kurz nach der Eröffnung des Kunsthauses Zürich schmückten erst wenige Nischenfiguren die Nordseite des Ausstellungstraktes, Fotografie von 1911, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

1910 ergab sich mit der Vollendung des Moser-Baus eine architektonisch spannende Situation: ein Zusammenspiel von drei verschiedenen räumlichen Varianten und Stilphasen des Historismus am Heimplatz. Von den neoklassizistischen Turnhallen der Kantonsschule über das neobarocke Pfauentheater hin zum Kunsthaus mit seinen späten neoklassizistischen und neubarocken Elementen am Übergang zum Jugendstil konnten hier die Veränderungen und Ausprägungen der historistischen Formensprache dicht nebeneinander studiert werden.

Abb. 18: Ausschnitt aus einer Luftbildfotografie aus 1000 Metern Flughöhe, zu sehen die Kantonsschule, rechts, über dem begrünten Turnplatz mit Turnhallen. Links anschliessend der ruhige, begrünte Heimplatz mit Kunsthaus und Pfauentheater, Fotografie von 1918, Ad Astra-Aero, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Tramwartehalle und Strassenbahn: Der Verkehr wächst und wächst

Der unverbaute Blick auf diese um einen relativ ruhigen Platz gelegene Bauten war nur während einer kurzen Zeitspanne möglich. Bereits 1895 hatte die Strassenbahn-Linie Bellevue–Platte–Kirche Fluntern eröffnet, die über den Heimplatz führte. Die elektrische Strassenbahn hatte den «Pendler» als neuen urbanen Bevölkerungstyp erschaffen. Von 1900 bis 1913 verzeichnete die Stadt Zürich eine Verdreifachung des Personenverkehrs via Zug und Strassenbahn. Eine Entwicklung, die fortschreiten sollte.

Passend dazu entstand kurz nach Eröffnung des Kunsthauses in dessen unmittelbarer Nähe ein Monument des öffentlichen Verkehrs: 1911 errichtete der Stadtbaumeister Friedrich Fissler (1875–1964) die Tramwartehalle vis-à-vis des Pfauenkomplexes an der Adresse Heimplatz 6 (Abb. 22–23). Heute beherbergt das «Pfauenhäuschen» den ältesten Kiosk von Zürich und ist im Inventar der städtischen Denkmalpflege verzeichnet.

Abb. 22: Die Tramwartehalle mit ihrem geschwungenen, steinernen Giebelfeld, worin eine reich verzierte Uhr eingelassen ist. Die Uhr, welche üblicherweise gewichtigen Bauten wie Bahnhöfen vorbehalten war, zeugt vom hohen Stellenwert der Tramstation bzw. dem «modernen» öffentlichen Verkehr, Fotografie von 1911, Heinrich Wolf-Bender, Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Abb. 23: Die repräsentative Tramwartehalle fungiert als Blickfang und Zentrum des Heimplatzes und versucht nicht, sich einzuordnen, was in ihrer Beziehung zum Denkmal von Ignaz Heim zum Ausdruck kommt, in dessen Rücken sie steht, Postkarte «Heimplatz mit Kunsthaus», ca. 1911, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Der Pfister-Bau: Die Moderne hält Einzug

Die herausragende architektonische Situation am Heimplatz wurde nicht von allen als solche erkannt. Davon zeugen beispielsweise Äusserungen von Emil Georg Bührle (1890–1956), Rüstungsindustrieller und Mitglied der Zürcher Kunstgesellschaft, der als Mäzen des zweiten Kunsthausbaus die Bauarbeiten vorantreiben wollte und sich gegen das Argument wehrte, ein neuer Museumsbau müsse sich harmonisch in die Umgebung einfügen; am Platz sei doch gar nichts vorhanden, «ausser der Schauerfassade des Pfauens, die auch bald verschwinden wird», und den «alten Ställen von Turnhallen» (Emil Georg Bührle in einem Brief vom 09.02.1955 an René Wehrli, Konservator Kunsthaus Zürich). Schon an der ersten Sitzung der Baukommission für einen neuen, zusätzlichen Kunsthausbau sprach Bührle zwei Millionen Franken für den Baufonds. Dank dieser Spende konnte kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs der Wettbewerb für einen Erweiterungsbau ausgerichtet werden. Gewinner der nur Zürcher Architekturbüros offen gestandenen Ausschreibung waren die Gebrüder Hans (1917–2002) und Kurt Pfister (1910–2001).

Wirtschaftliche Probleme, die angespannte finanzielle Lage der Kunstgesellschaft und Widerstand aus der Bevölkerung führten dann jedoch zu mehrjährigen Verzögerungen und interne Spannungen zudem zu wiederkehrenden Anpassungen des Bauprojekts. Zwar stimmte 1954 Zürichs Stimmbevölkerung (damals ausschliesslich Männer) der Zonenplanänderung und der Übertragung des städtischen Grundstücks im Südwesten des Heimplatzes an die Kunstgesellschaft zu, trotzdem führte der Umstand, dass für den Neubau das Krautgartenquartier mit 13 Altstadthäusern und rund 100 Bewohnerinnen und Bewohnern weichen musste, zunehmend zu Opposition. Auch gegen die Vertreibung des Kleingewerbes im Krautgartenquartier bildete sich Widerstand, woraufhin eine Initiative lanciert wurde. Die Initianten und Initiantinnen versammelten sich im Café Ost, im Volksmund «Östli» genannt, an der Krautgartengasse neben dem Moser-Bau. Das «Östli» war ein beliebter Treffpunkt für Intellektuelle und Kunstschaffende (Abb. 25 und 27).

Abb. 27: Das Krautgartenquartier mit dem beliebten Café Ost in der Mitte, rechts das Wohnhaus Lindenhof, links angeschnitten der Moser-Bau, Fotografie von ca. 1945, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Sie wollten den Abbruch verhindern und störten sich unter anderem daran, dass keine öffentliche Diskussion über das Neubauprojekt geführt worden war. Sie verlangten, dass der Neubau so in den Heimplatz eingefügt wird, dass das traditionelle Stadtbild geschont bleibt. 2185 Personen forderten eine erneute Abstimmung über den Neubau und kritisierten dessen Architektur. Trotz dieses Engagements und Unstimmigkeiten innerhalb der Baukommission wurde die Kunsthauserweiterung der Gebrüder Pfister zwischen 1956 und 1958 schliesslich durchgeführt – nicht zuletzt aufgrund des Drängens von Emil Georg Bührle.

Abb. 28: Der Pfister-Bau steht im rechten Winkel zum Moser-Bau und überspannt ein Restaurant, Fotografie von 1964, Wolf-Bender’s Erben, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Der Pfister-Bau besteht aus einem markant gegen die Kantonsschulturnhalle von 1880 vorspringenden Baukörper und bildet mit dem Moser-Bau einen rechten Winkel, der den Heimplatz im Südwesten einfasst (Abb. 28). Der auf freistehenden Betonstützen ruhende rechteckige Kubus beherbergt einen stützenfreien, nur mit Stellwänden unterteilbaren Grossraum für Wechselausstellungen. Die Betonfassade ist geprägt vom Schalungsbild der gehobelten und geleimten Schaltafeln mit einer lamellenartigen Reliefierung. Im Nordosten und Südwesten durchbrechen grosse Fensterbänder die Fassaden. Für die Präsentation von Skulpturen gedacht, ermöglichen die Seitenlichtstreifen eine Blickverbindung vom Ausstellungsaal zur Aussenumgebung. Heute ist der Pfister-Bau ein Baudenkmal von überkommunaler Bedeutung.

City-Ring und neues Schauspielhaus: Grosse unverwirklichte Ideen

Die folgenden 1960er- und 1970er-Jahre waren in baulicher Hinsicht geprägt von grossen architektonischen und städtebaulichen Ideen, die auch am Heimplatz hätten verwirklicht werden sollen und die Existenz der beiden Turnhallen bedrohten. Mit dem Megaprojekt der «magischen Ringe» glaubte die Stadt Zürich die langersehnte Lösung für den anschwellenden Individualverkehr gefunden zu haben. Als innerster von drei Strassenringen sollte dabei der City-Ring sowohl die Umfahrung als auch die Erschliessung der Innenstadt ermöglichen.

Abb. 29: Plan des City-Rings am Heimplatz, 1970, Stadt Zürich, Bauamt I, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Entlang der einstigen barocken Schanzen sollte eine autobahnähnliche Ringstrasse die Altstadt umfahren und die dazugehörigen Parkhäuser erschliessen (Abb. 29). Der Heimplatz wäre als Knotenpunkt zu einem für Schweizer Verhältnisse gigantischen Verkehrsbauwerk mit Fahrspuren auf mehreren Niveaus ausgebaut geworden. Im Juli 1969 legte der Stadtrat eine entsprechende Weisung für einen Kredit im Umfang von 51 Millionen Franken für den Ausbau des Heimplatzes und der anliegenden Strassen vor. Dahinter stand die Absicht, den Platz vom Verkehr zu befreien, denn auf dem Turnareal der Kantonsschule sollte ein neues Schauspielhaus gebaut werden. Die prominent besetzte Jury des Schauspielhausneubaus, die unter anderem aus den Zürcher Architekten Max Frisch (1911–1991) und Ernst Gisel (1922–2021) sowie dem schwedischen Modernisten Sven Markelius (1889–1972) bestand, wählte dazu unter fast hundert Eingaben das Projekt des dänischen Architekten Jørn Utzon (1918–2008) aus. Utzon baute gerade das Opernhaus von Sydney, das die Zeitschriften, Fernsehsendungen und Reiseprospekte bereits vor seiner Vollendung füllte. Analog dazu sollte auch das neue Schauspielhaus in Zürich internationale Akzente setzen. Ein markantes, über 150 Meter langes und bis zu 100 Meter breites Dach auf fünf Meter hohen Schalenelementen sollte sich von der Kantonsschule bis unmittelbar vor den Pfister-Bau erstrecken (Abb. 30). Unter der «Wellenbank» hätten der Heimplatz und die in die Tiefe entwickelten Eingangspartien des Theaters verschmelzen sollen.

Abb. 30: Die Pläne für das neue Schauspielhaus sahen einen flachen, reliefartigen Gebäudeteppich vor, der fast das ganze Areal von Kantonsschule bis zum Pfister-Bau hätte überdecken sollen, hier das überarbeitete Projekt von 1969, Jørn Utzon, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Die im Vorprojekt von Karl Egender (1897–1969) geplante und später zusammen mit Utzon im Rahmen des City-Ring-Projekts überarbeitete Verkehrslösung hätte den Abbruch zahlreicher Gebäude, unter anderem der Kantonschulturnhallen und des Pfauenkomplexes, zur Folge gehabt. Nichtsdestotrotz waren Expertenkreise und die Fachpresse begeistert von Utzons Plänen. Auch in der Regierung war man zunächst bestrebt, am Projekt festzuhalten. Trotzdem, so erinnerte sich der ehemalige Stadtpräsident Sigmund Widmer Jahre später in seinem «Tagebuch einer Weltreise»: «Der Widerstand in der Bevölkerung wuchs. Die Sache wurde chancenlos. So blies der Stadtrat die Idee ab.» Das Projekt des neuen Schauspielhauses scheiterte unter anderem am Protest der Öffentlichkeit. Der Pfauenkomplex musste nicht wie geplant einem Geschäftshaus weichen und auch der Verkehr konnte nicht durch Unter- oder Umfahrungen abgezogen werden.

Der Chipperfield-Bau: Das «Museum des 21. Jahrhunderts»

Im Kontext der wachsenden Sammlungs- und Ausstellungsstätigkeit des Kunsthauses Zürich war bereits Ende der 1980er-Jahre ein Studienwettbewerb ausgerichtet worden, der zum Ergebnis kam, dass auf dem bestehenden Gelände kein Platz für die unterdessen nötige Grosserweiterung des Museums bestand. 2005 erklärte der Zürcher Stadtrat die Erweiterung des Kunsthauses schliesslich zu einem seiner Legislaturziele. Im Rahmen einer Standortstrategie beschloss der Kanton die Pädagogische Hochschule in der Alten Kantonsschule zu verlegen und die Planung für eine Erweiterung des Kunsthauses auf dem Areal der Turnhallen in Angriff zu nehmen. Mit der Durchführung des Wettbewerbs wurde das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich beauftragt. Im November 2008 fand ein anonymer Projektwettbewerb statt. In ihrem Bericht hielt die Jury fest: «Das Kunsthaus Zürich leistet einen wichtigen kulturellen Beitrag zur Positionierung Zürichs innerhalb der Metropolen der Welt». Der Grund für die Betonung der internationalen Ausrichtung des Kunsthauses war das Ziel, «das Museum des 21. Jahrhunderts» zu erschaffen. Die Wahl fiel schliesslich auf das Projekt «AGLAIA» des Berliner Architekturbüros von David Chipperfield (*1953). Damit sollte am Heimplatz zum ersten Mal ein Projekt eines nicht schweizerischen Stararchitekten realisiert werden.

Abb. 31: Visualisierung des Siegerprojekts «AGLAIA» für einen neuen Kunsthausbau auf dem Areal der ehemaligen Kantonsschulturnhallen, David Chipperfield Architects, 2008, stadt-zuerich.ch.

Bereits im Jahr 2007 war der Stadtrat aufgrund sorgfältiger Vorstudien zum Schluss gekommen, die zwei Turnhallen und die Grünanlage aus dem Inventar der bau- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung, bzw. dem Inventar der schützenswerten Gärten zu entlassen. Damit wertete er im Rahmen einer Interessensabwägung die anstehende Kunsthauserweiterung höher als den Erhalt der denkmalpflegerisch unbestritten wertvollen Turnhallen. 2009 schlossen sich die Stadt Zürich, die Zürcher Kunstgesellschaft und die Stiftung Zürcher Kunsthaus als Bauherrschaft zur Einfachen Gesellschaft Kunsthaus Erweiterung (EGKE) zusammen. 2012 stimmten 54 Prozent der Stadtzürcher Stimmbevölkerung dem Projekt zu, woraufhin die Stadt 2013 die Baubewilligung erteilte. Trotz gewonnener Abstimmung und der Unterstützung durch die Behörden regte sich Widerstand. An den Plänen, die Kantonsschulturnhallen abzubrechen die Gartenanlage zu verbauen, entfachte sich ein Rechtsstreit. Ein Gitter zwischen den Turnhallen, Holzbaracken und starker Baumwuchs auf dem Turnhallenareal hatten die aussergewöhnliche Gestaltung und die städtebauliche Verbindung von Heimplatz und Alter Kantonsschule zwar etwas verschleiert, sie war jedoch immer noch gegeben (Abb. 32).

Abb. 32: Holzbaracken und Gewächse verschleiern die städtebauliche Verbindung von Heimplatz, Kantonsschulturnhallen und Alter Kantonsschule, Fotografie Datum unbekannt, Amt für Städtebau, Stadt Zürich.

Während den folgenden zwei Jahre verzögerten Rekurse des Zürcher und Schweizer Heimatschutzes sowie der Stiftung «Archicultura» den Baubeginn. Schliesslich wurden alle diese Rekurse abgewiesen, womit die Baubewilligung 2015 rechtskräftig wurde.

Eine andere Art von Widerstand leistete Harald Naegeli (*1939), der an der platzseitigen Frontseite der zum Abriss freigegebenen Turnhalle von 1880 ein Graffito hinterliess (Abb. 36). «Lautloser Protest» titelte die Zürcher Wochenzeitung WOZ 2015 über einer Fotografie des Graffito. Gemäss Kunsthistoriker Felix Thürlemann handelte es sich dabei «zweifellos» um einen echten Naegeli, wobei das Werk doch «merkwürdig untypisch» sei. Da zum Entstehungszeitpunkt im Kunsthaus gerade eine grosse Miró-Ausstellung stattfand und die Ähnlichkeiten zu dessen kubistisch-abstrakten Figuren augenfällig waren, erhielt die Reihe von Naegelis Werken, zu der das Graffito an der Turnhalle gehört, den Namen «Miró-Serie».

Abb. 36: Ein Graffito von Harald Naegeli ziert die zum Abbruch freigegebene Kantonsschulturnhalle von 1880, Fotografie von Oktober 2015, Juliet Haller, Amt für Städtebau, Stadt Zürich.

Nach rund sechs Jahren Bauzeit eröffnete die Kunsthauserweiterung von David Chipperfield am 9. Oktober 2021. Der Chipperfield-Bau ist ein mächtiger, dreigeschossiger und geschlossener Kubus auf einem Grundriss von ca. 60 x 60 m und 21 m Höhe unter einem Flachdach. Die Verkleidung geht nahtlos in die Trottoirzone über. Sie ist aus hellen Kalksteinblöcken gefertigt, die die lamellenartige Reliefierung des Pfisterbaus aufnehmen. Fünf Gesimse ziehen sich nahtlos um den gesamten Baukörper, das höchste schliesst das Gebäude nach oben hin ab. Hohe Fenster gewähren Einblick in die Ausstellungsräume. Den Eingang zum Museum bildet ein goldenes Messingtor, platziert im goldenen Schnitt der Front zum Heimplatz (Abb. 38).

Abb. 37: Freie Sicht vom Heimplatz auf die Alte Kantonsschule, Fotografie von November 2015, Juliet Haller, Amt für Städtebau, Stadt Zürich.
Abb. 38: Der Chipperfield-Bau kurz nach seiner Eröffnung, davor das Werk «Tastende Lichter II» von Pipilotti Rist (*1962) und das Denkmal für Ignaz Heim, Fotografie von 2021, Juliet Haller, Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Inschriften auf Reisen: Ins Bauteillager und zurück

Beim Abbruch der beiden Kantonsschulhallen im Jahr 2015 verschwand mit der Turnhalle von 1880 der bis dato älteste Bau direkt am Heimplatz. Die beiden Steintafeln mit den goldenen Inschriften, die ihren Eingang rahmten, wurden jedoch gerettet: Dank des Einsatzes der Denkmalpflege der Stadt Zürich wurden sie fachgerecht demontiert und ins Bauteillager bei der kantonalen Denkmalpflege in Stettbach geliefert (Abb. 37–39). Die Tafeln mit den Massen 191 x 130 x 33 cm wiegen je rund zwei Tonnen.

Seit dem Abbruch der Kantonsschulturnhallen wurde eine Neuaufstellung der Inschriftentafeln an verschiedenen Standorten geprüft. Eigentümer der Tafeln ist der Kanton Zürich. In Absprache mit der Universität Zürich als Eigentümervertreterin der Alten Kantonsschule, der kantonalen wie der städtischen Denkmalpflege und der Gartendenkmalpflege konnte man sich schliesslich für einen neuen Aufstellungsort bei der Alten Kantonsschule einigen. Finanzielle Unterstützung erhielt das Vorhaben durch den Lily-Altherr-Fonds.

Seit April 2024 sind die Inschriften unweit ihres ursprünglichen Standortes aufgestellt. Am Fusse der Treppe zur Alten Kantonschule erinnern sie an über hundert Jahre Baugeschichte am Heimplatz. Sie zeugen aber nicht nur von vergangener Baukunst, architektonischen Strömungen und städtebaulichen Visionen. Als einzige erhaltene Teile der denkmalpflegerisch wertvollen Turnhalle wird mit ihnen auch ein materielles Stück Stadtgeschichte bewahrt. Im öffentlichen Raum und durch den Austausch mit der Bevölkerung ermöglicht die Neuaufstellung die Geschichte der beiden verlorenen Turnhallen an diesem Ort fortzuschreiben. An der belebten Passage zwischen Alter Kantonsschule, Chipperfield-Bau und Rämistrasse konfrontieren sie Passantinnen, Museumsbesucher, Schülerinnen und Studierende mit dem Geist des Zürcher Schulwesens gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Auf diese Weise wirken sie wie ein Fenster in die Vergangenheit, erlauben neue Interpretationen und die Auseinandersetzung mit vergangenen Zeiten.

Inschriften der Kantonsschulturnhallen im Zeitraffer: Kulturgut in Bewegung

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In Kooperation mit Studierenden von Knowledge Visualization der ZHdK entstand diese Animation, welche die Geschichte der Inschriften der Kantonsschulturnhallen im Zeitraffer visualisiert. Animation: Lena Hochhuth und Flurina Hess, ZHdK Knowledge Visualization.

20’000 Jahre Stadtgeschichte unter dem Kunsthaus Zürich

Ihr wollt noch tiefer in die Vergangenheit des Zürcher Heimplatzes eintauchen? Hier geht’s zur wissenschaftlichen Auswertung der archäologischen Ausgrabung im Rahmen der Kunsthauserweiterung, die zu überraschenden Erkenntnissen und  neuen Bildern der Vergangenheit Zürichs führte.

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Verfasst von:

Viviane Mathis

Viviane Mathis

Viviane Mathis studierte Kunstgeschichte, Architekturgeschichte und empirische Kulturwissenschaften in Zürich und Bern. In der Abteilung Archäologie und Denkmalpflege des Kantons Zürich ist sie Projektleiterin Vermittlung.

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