Industriepionier Caspar Honegger

Die Textil- und die Maschinenindustrie waren eng miteinander verbunden und wiederholt schweren Krisen und strukturellen Veränderungen unterworfen. Bereits zu Beginn der industriellen Revolution erfuhr die Schweizer Textilproduktion mit Einführung der mechanischen Spinn- und Webmaschinen einen dramatischen Einbruch. Ihre in Handarbeit hergestellten Produkte waren in Qualität und Preis nicht mehr konkurrenzfähig. Die frühindustriellen Unternehmer nahmen die Herausforderung an: es wurden Maschinen aus England importiert, kopiert und verbessert und damit nicht nur das Überleben der Textilindustrie gesichert, sondern auch ein neuer Industriezweig gegründet – die Maschinenindustrie. Klangvolle Namen wie Escher Wyss, Georg Fischer, Von Roll, Rieter und Caspar Honegger gehen auf diese Zeit zurück.

Oft sass und stand und lag ich über und unter und neben meinem Modell eines Webstuhles, zwölf, vierundzwanzig, ja sechsunddreissig Stunden lang, ohne etwas Wesentliches an Nahrung zu mir zu nehmen, oder mir Ruhe zu gönnen. Ich staunte vor mich hin, ich suchte das unbekannte Bessere.

Caspar Honegger

Caspar Honegger (1804–1883) gehört als Gründer der Maschinenfabrik auf der Joweid in Rüti zu den bedeutenden Frühindustriellen im Zürcher Oberland. Die Tagebücher Honeggers zeugen von seinem schöpferischen, fast künstlerischem Trieb, mechanische Probleme zu lösen: «Kaum hatte ich mich in den Jahren 1834 und 1835 in das mir ganz neue Gebiet [die mechanische Weberei, A.d.V.] eingearbeitet, sah ich sofort die Unzulänglichkeiten dieser Art Webstühle ein. […] Ich musste selbst erst studieren, pröbeln, verwerfen und wieder neu beginnen, zerstören und wieder konstruieren, eine endlos lange, mühselige Arbeit, die jeder zu würdigen weiss, der je einmal sich ein Problem gestellt und nicht geruht und gerastet hat, bis die Lösung ihm geglückt. […] Oft sass und stand und lag ich über und unter und neben meinem Modell eines Webstuhles, zwölf, vierundzwanzig, ja sechsunddreissig Stunden lang, ohne etwas Wesentliches an Nahrung zu mir zu nehmen, oder mir Ruhe zu gönnen. Ich staunte vor mich hin, ich suchte das unbekannte Bessere.»

Der Erfinder- und Unternehmergeist von Caspar Honegger (1804–1883) trug wesentlich zum Aufschwung der Weberei in Europa bei. Bild: Fotoarchiv Maschinenfabrik Rüti.

Es wurde in der Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen, dass die Pioniere des Maschinen- und Fabrikwesens sich vor allem durch mechanische sowie technisch-betriebliche Fähigkeiten auszeichneten und erst in zweiter Linie durch handels- und finanztechnische Begabung. Der US-amerikanische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Berthold Frank Hoselitz hat den Fabrikpionier treffend als Mann beschrieben, «who gets his hands dirty».

Vom Websaal ins Werkmuseum – eine Erinnerungsgalerie

Die Maschinenfabrik Rüti begann 1943 zum 100-Jahr-Jubiläum der Firmengründung Webmaschinen auf dem Industriegelände Joweid zu sammeln. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Sammlung kontinuierlich erweitert. Man wollte den jungen Konstrukteuren, meist Maschineningenieure der ETH Zürich, vor Augen führen, wie in der Vergangenheit technische Probleme gelöst worden waren. Die Sammlung war Anschauungsort vergangener und Inspiration für neue technische Lösungen.

Generationen von Maschineningenieuren besuchten das Werkmuseum, um sich im Rahmen ihres Hochschulstudiums weiterzubilden oder sich als Entwickler und Forscher inspirieren zu lassen. Unter diesen Voraussetzungen wurde als Sammlungsziel des Werkmuseums in Rüti eine möglichst lückenlose chronologische Abfolge der industriellen Webmaschinen angestrebt, wozu in erster Linie Rüti- und Sulzer-Modelle aufgenommen wurden. Eine Auswahl der Produktepalette aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts:

Die Sammlung wuchs innerhalb von rund fünf Jahrzehnten zur weltweit grössten ihrer Art; eine vergleichbare Objektsammlung ist einzig in Fernost bei Toyota in Japan angelegt worden. Die Webmaschinensammlung Rüti setzt sich heute aus 62 vollständigen Webmaschinen zusammen: Der älteste, noch hölzerne Webstuhl aus der Mitte des 18. Jahrhunderts steht symbolhaft für die Webtechnologie am Vorabend der Industrialisierung, der jüngste Webautomat vom Typ M8300 von 2002 mit einer unglaublichen Produktivität von 2900 Fadeneinschüssen pro Minute für den Endpunkt einer auf maximale Produktivität ausgerichteten Hightech-Entwicklung. Und dazwischen einige Objekte mit direktem Bezug zu Caspar Honegger, zum Beispiel der bahnbrechende Oberschläger-Webstuhl «Rüti 1a», der bereits 1860 die beachtliche Drehzahl von rund 100 Schuss pro Minute leistete und für Rüti lange Zeit ein weltweiter Verkaufsschlager war. Insgesamt listet das Sammlungsinventar 289 Objektnummern auf; Maschinenbestandteile, Stanzmaschinen für Lochkarten, Webmaschinenmodelle oder eine Stempeluhr gehören ebenso dazu wie der umfangreiche Sammlungsbereich von Schaft- und Jacquardmaschinen, die für die Hebung der Kettfäden zur Einführung des Schussfadens verantwortlich sind.

Kanton Zürich als neuer Eigentümer der Sammlung

Die noch bis 1969 als Familienunternehmen geführte «Maschinenfabrik Rüti, vormals Caspar Honegger» wurde an Georg Fischer verkauft und gelangte 1982 in den Besitz des Sulzer-Konzerns. Zuerst als «Sulzer Rüti» und ab 1999 als «Sulzer Textil» wurden in Rüti, wenn auch mit schwindendem Erfolg, weiterhin Maschinen produziert. Seit den 1990er-Jahren steckt die Schweizer Textil- und Maschinenindustrie in einer Krise. Jahr für Jahr werden Verluste an Anteilen in den globalen Märkten gemeldet. «Sulzer in der Sackgasse» titelte die NZZ, bevor der Konzern am Standort Rüti 1999 einen schmerzlichen Arbeitsplatzabbau bekannt geben musste.

Die personell hochdotierte Forschungsabteilung in Rüti, die während rund 150 Jahren ein Garant für den wirtschaftlichen Erfolg der Maschinenindustrie gewesen war und nebenbei auch noch das Werkmuseum betreut hatte, kam in Verruf. Die Tüftler seien zu langsam, äusserten sich die Wirtschaftsanalysten, zu lange werde an Neuerungen geforscht und diese würden zu zögerlich auf dem Markt eingeführt, sodass die Konkurrenz in Fernost aufholen könne. Der Sulzer-Konzern gab in der Folge den Produktionsstandort auf der Joweid etappenweise auf und beauftragte die Sulzer Immobilien AG, Projekte für eine neue Nutzung des Industrieareals zu entwickeln. Im Zusammenhang mit der bevorstehenden Schliessung des Werkmuseums auf der Joweid wurde zwischen der Sulzer Immobilien AG, der Gemeinde Rüti und dem Kanton Zürich vereinbart, den Weiterbestand der Sammlung zu sichern, indem diese ab 1. Januar 2008 unentgeltlich ins Eigentum des Kantons Zürich überführt werde. Dabei verpflichtete sich der Kanton, eine neue, geeignete Unterbringung zu suchen.

Glücksfall Neuthal

Es darf als Glücksfall bezeichnet werden, dass der neue Eigentümer unter der Federführung der kantonalen Denkmalpflege für die Webmaschinensammlung im Neuthal bei Bäretswil eine neue Heimat gefunden hat. Diese historische Fabrikliegenschaft ist seit 1978 im Eigentum des Kantons.

Das zwischen 1827 und 1890 entstandene Fabrikensemble, dessen Entwicklung massgeblich durch die Industriellen Johann Rudolf Guyer (1803–1876) und seinen Sohn Adolf Guyer-Zeller (1839–1899) geprägt wurde, ist in seiner Authentizität einmalig. Es gehört zu den typischen mechanischen Textilfabriken des 19. Jahrhunderts, wobei nirgends sonst in der Schweiz ein Ensemble derart umfassend und gut erhalten geblieben ist: Betriebs- und Lagergebäude, Wasserkraftanlagen, aber auch der Fabrikantenwohnsitz des Industriebarons Adolf Guyer-Zeller mit üppiger Parkanlage sowie Kosthäuser und Stallungen präsentieren sich heute noch als bemerkenswerte Einheit.

An ihrem neuen Ort konnte die Sammlung öffentlich zugänglich gemacht werden. Für die Präsentation der Webmaschinen und die Einrichtung eines Rundgangs durch die historische Fabrik im Neuthal wurden die Fabriksäle den musealen Anforderungen angepasst. Der ursprüngliche Charakter und die Gebrauchsspuren blieben dabei erhalten.

Mittelpunkt des Fabrikensembles Neuthal ist das auffällig grosse Hauptgebäude aus dem Jahr 1827. Die rechts daran angebauten Gebäude – zweigeschossiger Verbindungstrakt und sogenannter Batteuranbau – wurden mehr als 50 Jahre später erstellt. Foto: Mark Röthlisberger.

Erweiterung des Sammlungskontextes

Das Werkmuseum auf dem Industriegelände Joweid in Rüti stand noch ganz in der Tradition der grossen nationalen Technikmuseen, die zum Ziel hatten, die technischen und wissenschaftlichen Leistungen und deren Urheber und Erfinder einem interessierten Publikum bekannt zu machen, wobei der technische Fortschritt grundsätzlich positiv bewertet wurde.

Mit dem Umzug der Webmaschinen ins Neuthal hat nicht nur die Präsentation der Sammlung an Qualität gewonnen. Gleichzeitig hat der Sammlungskontext mit dem Wegzug aus Rüti eine Erweiterung erfahren: Die Webmaschinen sind hier in einem musealen Angebot eingebettet, das nebst dem textilen Produktionsprozess auch die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Industrialisierung vermittelt. Die Maschinen werden mit zusätzlichem Informationsgehalt «aufgeladen». Sie erfahren vor diesem Hintergrund eine Kontexterweiterung vom technischen Sammlungsobjekt zum Kulturgut. Nebst Funktion, Vielfalt und Möglichkeiten ihrer Technik werden nun auch die vielfältigen Auswirkungen auf den Alltag, das Arbeiten, Kommunizieren und Empfinden der Menschen ins Blickfeld gerückt. Die in den Maschinen eingeschriebenen Spuren technischer Leistungen, wie sie an den Schusseintragsmethoden, an automatischen Spulenwechslern oder an ausgeklügelten Jacquardmaschinen objektiv sichtbar werden, sind nur eine mögliche Lesart der Sammlungsobjekte. Sie können auch als Symbole für das Schicksal von Generationen von Bauern und Heimarbeiterinnen im Zürcher Oberland gelesen werden, die aufgrund schwieriger ökonomischer Rahmenbedingungen in die Fabrikarbeit gedrängt wurden.

 

Glücksfall NIK

Da der Kanton Zürich, Eigentümer der Webmaschinensammlung, keine eigenen Museen betreibt, ist es als weiterer Glücksfall zu werten, dass im Neuthal mit dem Verein «Neuthal Industriekultur» (NIK) eine erfahrene Organisation gewonnen werden konnte, welche die Webmaschinensammlung am neuen Ort mit grossem freiwilligen Engagement betreut und der Öffentlichkeit zugänglich macht. Nebst der industriellen Weberei wird hier auch die Spinnerei, die Stickerei, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Industrialisierung sowie das ganze Industrieensemble den Besuchern und Besucherinnen vermittelt. Die Webmaschinensammlung ist unter dem Label NIK in einen umfassenden Kontext der historischen Textilproduktion eingebettet und wertet das Neuthal zu einem bedeutenden Textilzentrum mit internationaler Ausstrahlung auf. Nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern alle Sinne werden gleichzeitig angesprochen: ohrenbetäubender Lärm laufender Maschinen in einem warm-feuchten Websaal, der den Geruch von geschmiertem Eisen verströmt.

Neuthal Textil- & Industriekultur

Im Neuthal 6
8344 Bäretswil

www.industriekultur-neuthal.ch
info@neuthal-industriekultur.ch

Öffnungszeiten & Eintritt

2. Mai – 24. Oktober, jeden Sonntag 10 – 16 Uhr
Erwachsene CHF 12.–
Kinder CHF 6.–
Familien CHF 20.–

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Verfasst von:

Andrea Tiziani

Andrea Tiziani

R
Reinhard Furrer

Herzlichen Dank, Andrea, für diese äusserte lesenswerte Zusammenfassung der Geschichte der "Rüti Webmaschinensammlung" im Neuthal, wo die Objekte in überzeugender Art präsentiert werden und für die Nachwelt erhalten bleiben.

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E
Ernst Vontobel

Schade, dass wie viele andere Spitzen-Technologie-Firmen in der Schweiz, auch die ehemalige Maschinenfabrik Rüti durch Managementfehler eingegangen ist.

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