Wo einst Bahnarbeiter speisten und badeten

Zwischen Werkhallen, Backsteinfassaden und vergessenen Wohlfahrtsräumen erzählt das ehemalige Speisehaus der SBB-Hauptwerkstätten in Zürich-Altstetten von über hundert Jahren Arbeits-, Sozial- und Baugeschichte. Eine sorgfältige Sanierung macht diese Schichten nun wieder sichtbar.

Mit der Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen SBB übernahm der Bund im Jahr 1902 mehrere Privatbahnen in der ganzen Schweiz. In Zürich-Altstetten errichteten die SBB ab 1905 auf einer 43’000 m2 grossen Fläche mit den Hauptwerkstätten einen eigenen Industriebetrieb für den Unterhalt des Rollmaterials in der Region Zürich. Diese Stadt in der Stadt, geprägt durch eine einheitliche Bebauungsstruktur mit Strassen, einem Netz von Werkgleisen und einheitlichen gelben Backsteinfassaden, steht heute unter Schutz und wird seit 2018 schrittweise in ein neues Gewerbequartier («Werkstadt Zürich») transformiert. Wo einst Waggons gestrichen, Radsätze geschmiedet und Dampfkessel geprüft wurden, werden heute Kaffeemaschinen zusammengeschraubt, Bier gebraut und Seifen hergestellt.

Das ehemalige Speisehaus nach der Sanierung im August 2025. Der Kopfbau beherbergte ursprünglich eine Grossküche im Erdgeschoss, eine Verwalterwohnung im Obergeschoss und Bedienstetenzimmer im Dachgeschoss. Foto: Jonas Schädler, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.
Im länglichen Trakt waren einst der Speisesaal sowie im Souterrain der Waschsaal untergebracht. Die Räume im Obergeschoss waren von der Sanierung nicht betroffen. Foto: Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Duschen und Bäder für die Mitarbeitenden

Ein sozialgeschichtlich bedeutendes Puzzleteil auf dem Areal ist das ehemalige Speisehaus. Das zweiteilige Gebäude wurde 1911 als sogenanntes Wohlfahrtshaus erstellt und diente verschiedenen Zwecken: Im Kopfbau waren die grosszügige Verwalterwohnung, Bedienstetenzimmer und eine Grossküche angeordnet. Im daran anschliessenden langgestreckten Flachdachbau befand sich der Speisesaal – die Mensa für die Werktätigen auf dem Areal. Im Souterrain war der Waschsaal untergebracht, in dem die SBB-Mitarbeitenden duschen und baden konnten. Dieses Angebot stand auch deren Angehörigen offen und bedeutete eine grosse Annehmlichkeit, zumal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch längst nicht alle Wohnungen über eigene Bäder verfügten, geschweige denn diejenigen der Arbeiterschaft.

Der Speisesaal auf einer Aufnahme von 1927. Nebst der damaligen Möblierung und dem Essensangebot sind die Gusseisenstützen und das Brusttäfer gut zu erkennen. Foto: SBB Historic.
Der Waschsaal mit seinen Dusch- und Badekabinen im Souterrain. Aufnahme um 1927. Foto: SBB Historic.
Der Speisesaal wurde noch bis kurz vor der Sanierung als Mensa genutzt. Böden, Wände und Gusseisenstützen waren nicht mehr zu erkennen. Foto: Martin Zeller, baubüro in situ.
Der südöstliche Eingangsbereich nach der Sanierung. Neu ist nur die Eingangstür. Geländer mit Handlauf sowie Boden und Wände wurden gemäss restauratorischem Konzept instandgesetzt samt Spuren der verschiedenen Schichten. Foto: Pascal Consiglio, Baubüro in situ.

Überraschung unter dem Linoleum

2024–2025 wurde das ehemalige Speisehaus sorgsam durch das baubüro in situ saniert. Ziel war es, die bauzeitliche Substanz sowie jene Elemente hervorzuheben, an denen sich die sozial- und alltagsgeschichtliche Zeugenschaft ablesen lässt. Dabei blieben qualitätvolle Veränderungen und Spuren der Nutzung aus den vergangenen 100 Jahren bewusst sichtbar. Im Speisesaal wurden die historischen Gusseisenstützen und das noch vorhandene Brusttäfer von ihren Verkleidungen befreit und ergänzt. Der Raum erhielt eine Innendämmung, die bauzeitlichen Fenster wurden ausgebessert und teilweise neu verglast.

Die grosse Überraschung war, dass unter mehreren Linoleumschichten der ursprüngliche, in Fischgratmuster verlegte Holzzementboden zum Vorschein kam. Er konnte freigelegt, gereinigt und stellenweise ausgebessert werden, sodass der Saal heute wieder in seiner Ausstattung von 1911 erfahrbar ist. Der Waschsaal blieb weitgehend in seinem Zustand erhalten, er erhielt jedoch dank neuer Farbe und eines modernen Lichtkonzepts eine Auffrischung. Im Kopfbau wurden das Treppenhaus, die Wohnung sowie die Mansardenzimmer neu gestrichen, alle Räume von innen gedämmt, schadhafte Bodenabdeckungen ergänzt und Türen ersetzt.

Auch von aussen wirkt das ehemalige Speisehaus heute frischer: Das Holzwerk wurde ausgebessert und in einem hellen Grünton gestrichen, die Fenster mit grünen Stoffausstellmarkisen versehen und die stirnseitig angeordneten Eingänge erhielten neue Zugangstüren.

Im Waschsaal blieben die Duschkabinen in ihrem Zustand aus den 1940er-Jahren erhalten. Das neue Lichtkonzept ermöglicht die differenzierte Beleuchtung, die für die Nutzung als Kunstraum nötig ist. Foto: Pascal Consiglio, Baubüro in situ.
Das Herzstück des ehemaligen Speisehauses ist der instandgesetzte Speisesaal. Während die Gusseisenstützen und der freigelgte Boden aus der Bauzeit stammen, ist das Brusttäfer grösstenteils in Anlehnung ans historische Erscheinungsbild ergänzt. Foto: Pascal Consiglio, Baubüro in situ.

Das ehemalige Speisehaus ist mittlerweile einer neuen Nutzung zugeführt worden: Im Speisesaal hat die Schweizer Baumuster-Centrale mit ihrer Sammlung ein neues Zuhause samt Büroräumen und einem Veranstaltungsraum gefunden. Der Waschsaal wird vom eigens gegründeten Verein «Waschraum»  mit Kunstinstallationen bespielt. Die zwölf Zimmer im Kopfbau und die Kellerräume werden von zwei grossen Ateliergemeinschaften genutzt.

Interessierte können das Resultat der gelungenen Sanierung und die baukünstlerisch wie sozialgeschichtlich wertvollen Räumlichkeiten selbst besuchen. Die Tore des Speisesaals und des Waschsaals stehen im Rahmen von Veranstaltungen sowie der regulären Öffnungszeiten der Allgemeinheit offen.

Wer mehr über die Geschichte des Areals erfahren möchte, dem empfehlen wir unseren Audiowalk durch das Werkstadt-Areal.

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Verfasst von:

Jonas Schädler

Jonas Schädler

Jonas Schädler ist Bauberater bei der kantonalen Denkmalpflege und zuständig für die Begleitung sämtlicher SBB-Projekte im Kanton Zürich.

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