«Man erkennt die Besonderheit dieses Hauses erst auf den zweiten Blick»

Das 1929 von der Architektin Lux Guyer erbaute Landhaus «Obere Schiedhalde» in Küsnacht war in die Jahre gekommen. Es stand lange leer und befand sich in einem vernachlässigten Zustand. Für Delia Christ und ihren Mann war es beim ersten Besuch trotzdem Liebe auf den ersten Blick. In Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege haben sie das Haus von 2012 bis 2014 umfassend saniert. Heute schätzen sie den einzigartigen Charakter und den hohen Wohnwert, den dieses historische Objekt ihrer fünfköpfigen Familie bietet. Wir haben mit der Bauherrin und Bewohnerin Delia Christ gesprochen.

Frau Christ, das Landhaus «Obere Schiedhalde» wirkt auf den ersten Blick nicht sonderlich spektakulär. Trotzdem steht es seit dem Jahr 2010 unter Denkmalschutz.

Ja, man erkennt die Besonderheit dieses Hauses tatsächlich erst auf den zweiten Blick. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass es ursprünglich in einer ausgesprochen ländlichen Idylle stand, weit abseits vom Zentrum. Die Idee war, ein kleines, modernes Landhaus zu konzipieren – aber durchaus im bürgerlichen Stil. Dieses Haus hat sich mit seiner leichten Architektur damals sehr gut eingepasst. Im Gegensatz zu manchen männlichen Kollegen aus der Bauhausbewegung wollte sich die Architektin Lux Guyer (1894–1955) hier kein Denkmal setzen, sondern ihre Reformideen umsetzen. Diese werden vor allem im Innern des Hauses erkennbar. Die Grundrisse sind funktional gedacht und dabei sehr verwinkelt und kleinteilig, mit vielen Rückzugsmöglichkeiten. So würde man heute nicht mehr bauen. Aber genau das macht dieses Haus so wohnlich und für das Zusammenleben als Familie so interessant. Mein Eindruck: Es ist weniger die laute Geste, die dieses Objekt besonders und schützenswert macht, sondern die sehr differenziert und gut gedachte Architektur einer Frau, die ihrer Zeit voraus war.

Obere Schiedhalde von Lux Guyer, Zustand vor der Renovierung 2010.
Das Haus Obere Schiedhalde von Lux Guyer, Zustand vor der Renovierung 2010. Foto: Elvira Angstmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.
Erzählen Sie uns mehr über diese Architektin.

Lux Guyer eröffnete 1924 als erste Frau in der Schweiz ein eigenes Architekturbüro. Sie war eine hervorragende Architektin und hat ein bemerkenswertes Werk hinterlassen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie erstmals bekannt, als sie 1928 anlässlich der SAFFA (der ersten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit in Bern) ein vorgefertigtes Musterhaus aus Holz vorstellte. Das Haus hier an der Oberen Schiedhalde ist eine etwas luxuriösere Weiterentwicklung dieses Prototyps in Massivbauweise, das die Architektin mit ihrer Familie bis 1939 auch selbst bewohnte.

Trotz des schlechten Zustandes haben wir den Charme, der hier schlummert, sofort erkannt.

Delia Christ
Sie haben die Liegenschaft im Jahr 2011 gekauft. Wie war der Zustand?

Das Haus war stark vernachlässigt und renovationsbedürftig. Aber die Architektur und die Raumaufteilung waren erhalten geblieben. Trotz des schlechten Zustandes haben wir den Charme, der hier schlummert, sofort erkannt. Fast alles war noch im Originalzustand, auch die Details, also Beschläge, Armaturen, Lavabos. Beim Anheben der PVC-Böden kamen zudem schöne, gut erhaltene Holzböden zum Vorschein. Vereinzelte Baustrukturen, die im Lauf der Zeit entfernt worden waren, haben wir wieder ergänzt, so zum Beispiel eine Koje. Das ist ein kleiner Rückzugsraum, den die Architektin Lux Guyer in ihren Bauten immer wieder verwendet hat. Wir nutzen diesen «Miniraum» als Gästezimmer und als Ausweichzimmer, wenn jemand von uns Ruhe sucht oder ein Mittagsschläfchen machen möchte.

Für heutige Wohnansprüche wirkt das Haus kleinteilig, die Räume sind sehr verwinkelt. Stört Sie das nicht?

Uns hat das von Anfang an gefallen. Wir leben hier als fünfköpfige Familie und sind froh, dass wir ausreichend Zimmer haben. Jeder hat seinen Raum, seinen Rückzugsort. Man kann auch mal eine Türe hinter sich schliessen. Die Wohnfläche ist nicht riesig, aber durch den verwinkelten Grundriss wirkt sie doch grösser. Man überschaut das Haus nicht von Anfang an. Und die Räume mögen für heutige Verhältnisse zwar klein sein, aber sie korrespondieren immer auch mit dem Garten. Das Haus ist so durchdacht, dass wir uns in keiner Weise eingeengt fühlen.

Kleinteilig mit vielen Rückzugsmöglichkeiten: Blick ins 1. Obergeschoss, Zustand nach der Renovierung 2013. Foto: Elvira Angstmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.
Sie haben dieses stark renovationsbedürftige Objekt damals erworben, obwohl das Haus unter Denkmalschutz stand. Haben die damit verbundenen Einschränkungen Sie nicht abgeschreckt?

Sie sind nicht die Erste, die sich darüber wundert. Aber uns hat dieses Haus von Anfang an begeistert – der Gesamtentwurf, die liebevollen Details und die Wohnlichkeit, die es ausstrahlt. Vielleicht sind wir da untypisch für die heutige Zeit. Wir hatten in keiner Weise das Bedürfnis, hier Wände herauszureissen oder die Küche zu vergrössern. Ganz im Gegenteil. Uns war wichtig, dieses Objekt wieder so nah wie möglich an den Originalzustand zu bringen, weil uns genau das so gut gefallen hat. Es war uns klar, dass das ein Wagnis war, aber das hat uns nicht abgeschreckt.

Blick in die Küche im Erdgeschoss, Zustand nach der Renovation 2013. Foto: Elvira Angstmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.
Wie muss man sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und den verschiedenen Akteuren konkret vorstellen?

Schon in der Planungsphase haben wir und unsere Architekten die enge Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege gesucht. Wir haben schnell gemerkt, dass wir uns beim Ideenaustausch und in der Zusammenarbeit auf Augenhöhe begegnen. Rückblickend hatten wir auch einfach das Glück, dass wir uns für dieses ziemlich komplizierte Projekt auf sehr erfahrene Planer abstützen konnten. Wertvoll war auch, dass wir über die kantonale Denkmalpflege zu den richtigen Handwerkern gefunden haben. Am Schluss stand ein tolles Team am Werk, das mit Sachverstand, Herz und Liebe zum Detail an die Arbeit ging.

Sie durften eine Lärmschutzmauer bauen, die das Haus von der Strasse abtrennt. Das scheint ein starker Eingriff zu sein und überrascht.

Das Umfeld des Hauses hat sich seit dem Bau radikal verändert. Wo früher ländliche Idylle war, führt heute die stark befahrene Kantonsstrasse vorbei. Die Mauer, die wir realisieren konnten, ist gar nicht primär als Lärmschutz gedacht. Wir haben sie aussen mit Hainbuche und innen mit Spalierobst bepflanzt. Das friedet das Grundstück ein. Es verschafft dem Garten einen Rahmen und macht ihn wieder zum Ort des Rückzugs und der Behaglichkeit, der er ursprünglich war, als er noch in Obst- und Blumenwiesen eingebettet war. Für mich ist diese Einfriedung ein gutes Beispiel, wie es gelingen kann, im Einklang mit dem Vorhandenen eine zeitgemässe Lösung für neue Probleme zu finden.

Es fühlt sich einfach natürlich an, hier zu wohnen.

Delia Christ
Sie wollten – und mussten – das Haus möglichst originalgetreu sanieren, gleichzeitig sollte es modernen Ansprüchen entsprechen. Wie haben Sie das zusammengebracht?

Wir mussten in der Tat die gesamte Technik von Grund auf erneuern – Wasser, Strom, Heizung. Das war sehr anspruchsvoll. Das Ziel lautete: Alles was man sieht, entspricht dem Charakter des Hauses, alles Unsichtbare ist auf dem neusten Stand der Technik. Da war natürlich mehr gefragt als 0815-Lösungen. In solchen Situationen hat sich gezeigt, wie gut das Zusammenspiel zwischen den vielen verschiedenen Akteuren war. Es war greifbar, dass alle Beteiligten genau an solchen kniffligen Herausforderungen ihre Freude hatten und zu Höchstform aufliefen.

Ein Garten zum Wohlfühlen: Das Haus Obere Schiedhalde heute. Foto: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich, 2024.
Wie fühlt es sich für Sie und Ihre Familie an, in so einem speziellen Objekt zu leben? Bewegt man sich – gerade auch mit Kindern – nicht etwas gehemmt?

Am Anfang war es schon ein bisschen so, dass wir Respekt hatten. Und auch heute noch hören wir es ungern, wenn zum Beispiel eine Türe zu schwungvoll ins Schloss fällt. Aber dieses Haus war trotz Schutzstatus sehr rasch einfach unser Zuhause. Lux Guyer hat es verstanden, mit ihrer Architektur und im Zusammenspiel mit dem Garten eine Wohnlichkeit zu schaffen, in der der Mensch kein Fremdkörper ist. Es fühlt sich einfach natürlich an, hier zu wohnen.

Buchtipp

LUX GUYER, OBERE SCHIEDHALDE
Hg. Ludovic Balland, Emanuel Christ, Christoph Gantenbein, Sven Richter
Park Books, 2023

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Verfasst von:

Viviane Mathis

Viviane Mathis

Viviane Mathis studierte Kunstgeschichte, Architekturgeschichte und empirische Kulturwissenschaften in Zürich und Bern. In der Abteilung Archäologie und Denkmalpflege des Kantons Zürich ist sie Projektleiterin Vermittlung.

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