Die Pfahlbauten um die Alpen – das unsichtbare Welterbe

Im Jahr 2011 wurden 111 Pfahlbaufundstellen aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Slowenien, Italien und Frankreich als «Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen» in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Dies hat manche überrascht, denn im Gegensatz zu vielen anderen Welterbestätten sind die Pfahlbauten in der Regel unsichtbar. Wie kam es zu dieser Einschreibung und was hat sie gebracht?

Die Meldung traf am 27. Juni 2011, 19:38:40 per Email ein: «… our nomination has been inscribed this evening!». 111 Pfahlbaufundstellen rund um die Alpen waren in die UNESCO-Welterbeliste eingeschrieben. Das war eine Erfolgsmeldung und für die Archäologinnen und Archäologen ein Grund zu feiern! Der Weg von der Idee zur Einschreibung war allerdings lang und voller Herausforderungen.

Unsichtbares Welterbe: Die Fundstelle Greifensee-Storen/Wildsberg. Foto: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Die Idee, die Pfahlbauten auf die Welterbeliste zu setzen, stammt aus der Drei-Seen-Region und entstand 2004, im Zuge des 150-Jahre-Jubiläums der Entdeckung der Pfahlbauten. Ziel war es, mit dem Label die herausragende Bedeutung der Pfahlbauten aufzuzeigen und dieses aussergewöhnliche Kulturerbe besser zu schützen. Bald meldeten weitere Kantone, dass sie mit mindestens so wichtigen Fundstellen aufwarten können. Das Bundesamt für Kultur BAK, das für die Federführung der Kandidatur zuständig war, nahm die Idee 2004 auf die liste indicative zuhanden der UNESCO auf. Damit floss das Projekt in die Planung für eine Erweiterung der Welterbeliste ein. Darüber hinaus regte das BAK eine Kandidatur mit den weiteren Alpenländern Deutschland, Österreich, Slowenien, Italien und Frankreich an, da die Chancen einer internationalen Kandidatur weit besser wären. Damit stiegen zwar die Erfolgsaussichten, der Aufwand wuchs allerdings exponentiell.

Babylonisches Sprachgewirr

Zur Koordination der Kandidatur war zunächst die Schaffung einer Trägerorganisation notwendig. Mit der Gründung des Vereins Palafittes 2008 nahm die Kandidatur vier Jahre nach Lancierung der Idee Fahrt auf. Zuerst galt es, die Liste der mitwirkenden Kantone zu klären: Im Tessin war gerade einmal ein einziger Pfahl bekannt. Obwalden war auf dem Verteiler, verfügte aber über gar keine Fundstelle – es stellte sich nachträglich heraus, dass es mit Nidwalden verwechselt wurde. Ohne Tessin und Obwalden verblieben immer noch 15 Kantone in der Kandidatur, was nicht ohne eine gute Portion Kantönligeist einherging. Auf internationaler Ebene galt es, die Sprachbarrieren zu überwinden: Von den beiden offiziellen «UNESCO-Sprachen» setzte sich Englisch gegenüber Französisch durch. Dennoch konnte es an den gemeinsamen Sitzungen durchaus mal vorkommen, dass neben diesen beiden Sprachen auch Dialoge in Deutsch und Italienisch gehalten wurden. Eine weitere Herausforderung war die Etablierung der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten 30 Organisationen. Die verschiedenen Länder hatten sehr unterschiedliche Abläufe und Kommunikationsstile, die erst aufeinander abgestimmt werden mussten.

Qual der Wahl bei den Fundstellen

Während der Kandidatur wurde ziemlich schnell klar, dass nicht alle bekannten 1000 Fundstellen rund um die Alpen in die Welterbeliste integriert werden konnten. Deren Erhaltungszustand ist sehr unterschiedlich und viele Stationen sind nur aufgrund alter Fundmeldungen bekannt. In eine erste Auswahl gelangten 156 repräsentative Fundstellen.

Für die Auswahl wurde das Verbreitungsgebiet der Pfahlbauten in Regionen eingeteilt, wie etwa «Drei-Seen-Region» (Neuburgersee, Bielersee, Murtensee) oder «Kleinseen des schweizerischen Mittellandes» (Lobsigensee, Burgäschisee, Inkwilersee, Moossee). In jeder dieser Regionen decken die ausgewählten Fundstellen verschiedene Aspekte wie beispielsweise die «herausragende Erhaltung naturwissenschaftlicher Proben» oder «modellhafte Beispiele von Siedlungsstrukturen» ab. Gleichzeitig sollten diese Fundstellen auch ein möglichst langes Zeitfenster repräsentieren. Dabei vollführten die Expertinnen und Experten einen Spagat: Von den Fundstellen musste so viel bekannt sein, dass der kulturgeschichtliche Wert beurteilt werden konnte. Dies ist aber nur möglich, wenn bereits Teile der Fundstelle untersucht worden sind. Wenn die Station vollständig ausgegraben wurde, ist naturgemäss viel bekannt – allerdings wurde die Fundstelle somit zerstört. Nicht mehr vorhandene Fundstellen können wiederum nicht ins Welterbe eingetragen werden. Es galt also, einen Kompromiss zwischen hinreichenden Kenntnissen und möglichst viel erhaltener Substanz zu finden.

Das Bewerbungsdossier enthält auf 1400 Seiten und einer ergänzenden Datenbank sämtliche relevanten Informationen über die Erforschung der Pfahlbauten rund um die Alpen: Forschungsgeschichte, wissenschaftliche Ergebnisse, hydrologischen Eigenheiten von Seen, Gefahren für die Fundstellen, Vorschläge für Schutzmassnahmen und die Argumentation zur Welteberwürdigkeit der Pfahlbauten. Foto: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich

Täglich Fisch

Die Kriterien für die Auswahl der Fundstellen flossen in ein nach genauen Vorgaben der UNESCO strukturiertes Bewerbungsdossier ein, das im Februar 2010 eingereicht wurde. Nach der Einreichung des 1400-seitigen Dossiers stand die Prüfung durch eine unabhängige Expertin an. Die zuständige Stelle, der internationale Rat für Denkmäler und historische Stätten ICOMOS, beauftragte damit die irische Archäologin Margaret Gowen. Sie sollte auf einer zweiwöchigen Reise um die Alpen die wichtigsten Fundstellen in Augenschein nehmen. Bereits vorgenommene Schutzmassnahmen und die Pläne für die «Inwertsetzung» wurden von den lokal zuständigen Behörden erklärt. Das Programm dieser evaluation mission war so dicht, dass es praktisch auf die Minute getaktet war. Die Abende waren meist mit offiziellen Essen belegt. Auf dem Menu stand, wenig überraschend und den Örtlichkeiten geschuldet, täglich Fisch.

Nach diesem Besuchsmarathon kam als einzige Korrektur die «Empfehlung» von der UNESCO, die Auswahl der Fundstellen zu schärfen, weshalb diese auf die heute eingeschriebenen 111 Stationen eingedampft wurde.

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Nicht einzigartig, aber aussergewöhnlich

Abgesehen von der Reduktion einzuschreibender Fundstellen war die Aufnahme der Pfahlbauten in die Welterbeliste unbestritten. Dies mag einige vielleicht überraschen, für Archäologinnen und Archäologen liegt die Bedeutung der Pfahlbauten dagegen auf der Hand.

Pfahlbauten, oder wie sie auch genannt werden, Ufer-, Seeufer- oder Feuchtbodensiedlungen, bestehen lapidar ausgedrückt aus Pfählen und Fundschichten. Die Pfähle sind Reste von Gebäuden, Zäunen oder Stegen. Die Schichten bildeten sich aus dem Abfall, der sich im Zuge der Besiedlung ansammelte. Abfall? Das klingt per se noch nicht welterbewürdig, doch diese Schichten haben es in sich: Da sie sich über die Jahrtausende unter dem Grundwasserspiegel befanden, sind nicht nur Werkzeuggriffe und Gefässe aus Holz oder Fadenspulen und Schuhe aus Holzbast gut erhalten, es können auch Reste von Kultur- und Sammelpflanzen, Ackerunkräutern und sogar Parasiteneier untersucht werden. Damit erhalten wir einen lebendigen Einblick in das Alltagsleben der damaligen Bevölkerung.

Eine Erfindung, die heute nicht mehr wegzudenken ist. Dieser Radfund aus Zürich datiert um 3200 v. Chr. und gehört zu den ältesten der Welt. Foto: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Die Pfahlbauten um die Alpen sind nicht einzigartig. Fundstellen mit Feuchtbodenerhaltung finden sich an vielen Orten der Welt: In den Seen Schottlands und Irlands gibt es beispielsweise eine Vielzahl sogenannter Crannógs, ehemalige kleine Siedlungen auf oft künstlichen Inseln. In der Poebene Italiens wurden während der Mittelbronzezeit zahlreiche Terramare-Siedlungen errichtet. Aktuell werden auch Pfahlbauten im Grenzgebiet von Albanien, Nordmazedonien und Griechenland untersucht. Selbst in China finden sich Reste prähistorischer Pfahlbaudörfer, die sich von den Befunden her nicht wesentlich von unseren Fundstellen unterscheiden.

Im Gegensatz zu diesen Beispielen decken die Pfahlbauten um die Alpen aber einen langen Zeitraum vom Beginn der Jungsteinzeit über die Kupfer- und Bronzezeit bis in die frühe Eisenzeit ab (Schweiz: 4300–800 v. Chr.). Eine lange Entwicklung der Menschheitsgeschichte, die dank der Dendrochronologie genau datiert werden kann. Es ist dieses umfassende, seit 160 Jahren erforschte Archiv, dass die Aussergewöhnlichkeit der Pfahlbauten um die Alpen ausmacht.

Pfahlbau-Fundstellen sind im Wesentlichen Pfähle und Abfallschichten, die sich während der Besiedlung angehäuft haben. Dank der Lagerung im wassergesättigten Boden bleiben organische Reste ausserordentlich gut erhalten. Foto: Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Die Krux mit der (Un)Sichtbarkeit

Die Pfahlbauten liegen im Wasser oder unter dem Boden und sind damit unsichtbar. Der Aspekt der Unsichtbarkeit begleitete die Kandidatur von allem Anfang an: Warum soll etwas Welterbe sein, das man nicht sieht? Gerade in Tourismuskreisen war die Skepsis gross. Tatsächlich aber ist in der Welterbekonvention mit keinem Wort erwähnt, dass die Stätten als Touristenmagnet dienen müssen. Im Gegenteil: Grosse Mengen von Besucherinnen und Besuchern können einem Welterbe stark zusetzen.

Priorität hat der Schutz und die Erhaltung des Kulturerbes. Gerade die Pfahlbauten sind mannigfaltigen Gefahren ausgesetzt: Erosion durch Bojenketten, durch Wind oder Schiffsschrauben verursachte Wellen, Austrocknung durch Grundwasserspiegelsenkungen und Bautätigkeit, um nur einige zu nennen. Doch was man nicht kennt, schützt man nicht. Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Aufgabe. Diese Herausforderung wird in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich gehandhabt. Da die Fundstellen fast ausschliesslich in sensiblen Feuchtgebieten liegen – oft Naturschutzgebiete –, wurde im Kanton Zürich keine einzige Welterbestätte mit einer Tafel markiert.

Irgendwo hier unter dem Boden liegt gut geschützt die Fundstelle Wetzikon-Robenhausen. Foto: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Was hat es gebracht?

Die Kandidatur kam für die archäologischen Dienststellen einem grossen Kraftakt gleich. So stellt sich die Frage, was die Einschreibung gebracht hat. Um es kurzzufassen: sehr viel! Erstmals wurden alle bekannten Fundstellen in einer zentralen Datenbank erfasst und stehen damit der Forschung zur Verfügung. In Österreich wurden Mittel gesprochen, um die Fundstellen einzumessen und zu managen. Nicht überall genossen die Pfahlbauten in den archäologischen Dienststellen dieselbe Priorität. Dies galt insbesondere für zentralistisch organisierte Länder wie Italien und Frankreich, wo die Pfahlbauten in der Peripherie des Landes liegen. Auch in einigen Schweizer Kantonen wirkte die Einschreibung als Katalysator für längst notwendige Schutzmassnahmen.

Mit der International Coordination Group wurde der internationale Austausch in der Forschung, beim Schutz sowie in der Öffentlichkeitsarbeit belebt und institutionalisiert. Nicht zuletzt bekamen auch Bestrebungen Aufwind, die Bevölkerung über dieses aussergewöhnliche Kulturerbe zu informieren. Dies ist und bleibt die grosse Herausforderung der Zukunft: Das unsichtbare Welterbe in unser Bewusstsein zu rücken.

Über 3000 Jahre alte Pfähle im Neuenburgersee. Ein Grund zur Freude? Eher ein Alarmzeichen: Die Pfähle werden über kurz oder lang erodiert. Schutzmassnahmen, z.B. eine Überdeckung, sind hier dringend notwendig. Foto: Christian Harb.

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Verfasst von:

Christian Harb

Christian Harb

Christin Harb ist Kulturingenieur ETH und Archäologe. Er arbeitet als Projektleiter bei Archäologie und Denkmalpflege Zug sowie der Kantonsarchäologie Zürich, wo er u.a. die Aktivitäten zum Pfahlbaujubiläum organisiert. Dabei werden Erinnerungen an die Zeit wach, als er die Arbeiten für die Kandidatur des UNESCO-Welterbes «Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen» koordinierte.

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