In Zürich Aussersihl, gegenüber des Letziparks, liegt ein aussergewöhnliches Industriedenkmal. Hinter der «Stützliwösch», zwischen Holstrasse und Gleisfeld, erstrecken sich einer Bergkette gleich helle Backsteinbauten. Was früher SBB Hauptwerkstätten Zürich (HWZ) hiess, ist heute die «Werkstadt Zürich». Die Stadt in der Stadt zeugt von Pionierleistungen im Schweizer Bahnwesen, industriellen Umwälzungen und Meilensteinen der Zürcher Stadtgeschichte.

Die Anfänge eines Grossprojekts

Wir schreiben das Jahr 1893. Durch die Eingemeindung von elf Nachbargemeinden wird Zürich die erste Grossstadt der Schweiz. Mit der Stadt wächst der Verkehr: Der Hauptbahnhof Zürich ist längst zu einem Knotenpunkt mit schweizweiter Bedeutung geworden und muss dringend erweitert werden. Bauten für den Bahnunterhalt im Bereich des Hauptbahnhofs stehen seiner Vergrösserung zunächst im Weg. Platz findet sich schliesslich im frisch zu stadtzürcher Gebiet erklärten Aussersihl. Zwischen 1905 und 1911 entsteht gegenüber des Schlachthofs die Kernanlage der HWZ. Für die noch jungen Schweizerischen Bundesbahnen sind die Werkstätten dringend nötig, um das aufgekaufte und teilweise veraltete Material der verschiedenen ehemaligen Schweizer Privatbahnen unterhalten zu können. Die Zürcher Werkstätten sind nicht nur für den Hauptbahnhof, sondern für Rollmaterial aus der ganzen Schweiz zuständig, das hier zu Reparaturen und zur Revision zusammengezogen wird. Mit diesem Anspruch avancieren die HWZ zum ersten Grossprojekt der noch jungen SBB.

Die SBB Hauptwerkstätten (Bildmitte unten) erstreckten sich in den 1920er-Jahren über knapp einen Kilometer der Hohlstrasse entlang. Dahinter liegen die Badenerstrasse und Altstetten. Quelle: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Ad Astra-Aero, ca. 1928.

Der Betrieb als Maschine

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts funktioniert das HWZ-Areal wie eine ausgeklügelte Maschinerie, in der die einzelnen Bauten funktional voneinander abhängig sind. Herz und Hirn bilden das Verwaltungsgebäude und das Magazingebäude. Von hier aus werden die Wagenwerkstätten und die Lokomotivreparaturwerkstätte beliefert und die Arbeitsabläufe organisiert. Die einzelnen Hallen sind durch Schiebebühnen und Laufkräne miteinander verbunden, sodass Werkteile und ganze Lokomotiven von einer Halle in die andere gehievt oder gefahren werden können. Holzabfälle aus der Wagenwerkstätte werden über eine Absauganlage in die nahestehende Holztrocknerei befördert, wo sie zum Heizen benutzt werden. Die an das Transformatorenhaus des städtischen Schlachthofs angeschlossene elektrische Zentrale dient der Versorgung der einzelnen Abteilungen, das Speisehaus derjenigen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch die Freiräume – Strassen, Plätze und Grünflächen – und die Fassadenelemente erfüllen klar definierte Funktionen. Die alles mit einem Gleis verbindende Werkstrasse und der Zaun zur Hohlstrasse hin halten die Einzelteile dieser «Maschine» räumlich zusammen. Ihre Fläche von knapp 42’000 Quadratmeter, die Grösse der Hallen und die einheitlichen Sichtbacksteinfassaden stellen die Anlage in eine Linie mit den grossen Maschinenindustrie-Komplexen im Kanton Zürich wie zum Beispiel das Sulzerareal in Winterthur.

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So könnte es ausgesehen haben: In Kooperation mit Studierenden der Scientific Visualization der ZHdK entstand diese Animation, welche die Verschiebung der Zugwagen zwischen den Hallen visualisiert. Animation: Joel Borter, Enrico Bachmann, Katja Knöllinger und Gabriel Schalter, Scientific Visualization, ZHdK.

Von der Werkstatt zur Werkstadt

Seit seiner Entstehung wird das Areal kontinuierlich weiterentwickelt. Lange waren die baulichen, maschinellen und technischen Anpassungen auf Kostenoptimierung und Effizienzsteigerung ausgerichtet. Seit 2017, als Folge bahnbetrieblicher Reorganisationen, befinden sich verschiedene SBB-Infrastrukturbauten zwischen dem Hauptbahnhof Zürich und Altstetten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Im Zuge dessen entwickeln die SBB als Grundeigentümerin in Zusammenarbeit mit der Stadt und der kantonalen Denkmalpflege einen Masterplan für die SBB Hauptwerkstätten, wodurch diese zur «Werkstadt Zürich» werden soll. Konkret bedeutet dies, dass der industrielle Bahnbetrieb nur noch auf einem Teil des Areals stattfindet, während der andere Teil für innerstädtische Handwerksbetriebe, lokale Produktionsstätten und Dienstleistungsunternehmen geöffnet wird. Neben der urbanen Produktion soll auch die städtische Gesellschaft die Werkstadt bevölkern. Die gewachsene Arealstruktur bietet dabei das Gerüst für eine Weiterentwicklung zu einem neuen, belebten Stadtraum mit Freiräumen für Kultur und Erholung.

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Die bauliche Entwicklung im Zeitraffer. In Kooperation mit Studierenden der Scientific Visualization der ZHdK entstand diese Animation, die eine Idee der baulichen Entwicklung des Areals gibt. Animation: Joel Borter, Enrico Bachmann, Katja Knöllinger und Gabriel Schalter, Scientific Visualization, ZHdK.

Denkmalpflege und Nachhaltigkeit

Bei der Arealentwicklung wird grosser Wert auf die Nachhaltigkeit gelegt. Und hier kommt die Denkmalpflege ins Spiel. Ihre Kompetenzen in der Pflege von historischer Bausubstanz – beispielsweise genaue Kenntnisse von langlebigen Baumaterialen, die tägliche Arbeit mit der Wiederverwendung von Bauteilen sowie die Erfahrung in der Weiterentwicklung bestehender Bauten und Anlagen – tragen direkt dazu bei, einen sorgsamen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen zu finden und dem erklärten Ziel von geringstmöglichen Emissionen im Bau und im Betrieb näher zu kommen. Derweil geht es in Sachen Nachhaltigkeit nicht nur um Umweltfragen. Die teilweise seit über hundert Jahren bestehenden Bauten machen die Einzigartigkeit des Areals aus. Sie verleihen dem Ort Identität und den sich darin bewegenden Menschen Orientierung – auch für die Zukunft. Hier liegt das Potential von denkmalpflegerischem Fachwissen in Belangen der Nachhaltigkeit. Der Masterplan Werkstadt Zürich ist das Resultat eines intensiven Austauschs zwischen SBB und Denkmalpflege – einerseits, um den Wert und das Nutzungspotenzial der historischen Anlage zu erkennen, andererseits um kreative Lösungen im Umgang mit Baudenkmälern zu finden. Dieser Prozess der Weiterentwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. Doch bereits heute erscheinen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hier nicht nur neben- sondern vor allem miteinander.

Audiowalk

Wer mehr über die Geschichte des Areals erfahren möchte, dem sei ein Besuch der Werkstadt Zürich und unser Audiowalk empfohlen. Nehmen Sie ein Smartphone und idealerweise Kopfhörer mit und klicken Sie vor Ort auf diesen Link.

 

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Verfasst von:

Viviane Mathis

Viviane Mathis

Viviane Mathis studierte Kunstgeschichte, Architekturgeschichte und empirische Kulturwissenschaften in Zürich und Bern. In der Abteilung Archäologie und Denkmalpflege des Kantons Zürich ist sie Projektleiterin Vermittlung.

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