Linda hat vor kurzem ihr Archäologiestudium mit einer Masterarbeit über den Klosterhof in Töss abgeschlossen. Zur Vorbereitung auf die aktuelle Ausgrabung hat sie historische Dokumente studiert und akribisch erforscht, wann welche Gebäude wo gebaut, wie genutzt und schliesslich abgebrochen worden sind. Das Wissen darüber hilft ihr nun dabei, die freigelegten Mauern auf der Ausgrabung richtig einzuordnen. Für Linda ist es besonders spannend, auf dieser Ausgrabung zu arbeiten, nachdem sie sich so lange und intensiv mit der Geschichte des Areals beschäftigt hat. Sie glaubt, sich im ehemaligen Klosterhof auszukennen, lässt sich aber noch so gerne mit Befunden überraschen, von denen sie nicht zu träumen wagte.
Auf der Ausgrabung hat Linda eine Spezialaufgabe gefasst: Sie kümmert sich um die Dokumentation der freigelegten Architekturfragmente. Gemeint sind Bauteile aus Stein, etwa Gewände- oder Bogensteine von Türen und Fenstern, Mauerquader oder Gewölberippen. Als die Klosterbauten von Töss im 19. Jahrhundert niedergerissen worden sind, wurde das Baumaterial nicht vom Gelände fortgeschafft. Vor der Erfindung von Bagger und Lastwagen war der Aufwand dafür schlicht zu gross. Stattdessen verwendete man die Werkstoffe beim nächsten Bau als sogenannte Spolien oder sie wurden in eine Bodenaufschüttung gemischt. Dies bedeutet, dass viele der mittelalterlichen Steinartefakte nun zwischen Industrieschlacken und anderen modernen Funden in neuzeitlichen Schichten liegen.
Eigentlich sind Architekturfragmente wie normale Funde zu verstehen, doch sie bringen eine besondere Schwierigkeit mit sich: Sie sind verdammt gross und schwer. Sie passen in kein Fundkistchen und können nur mit enormem Kraftaufwand, meist mit dem Bagger, geborgen und verschoben werden. Für eine Aufbewahrung in den Lagerhallen der Kantonsarchäologie Zürich fehlt schlicht der Platz. Lindas Aufgabe ist es daher, die Steine so gut und genau zu dokumentieren, dass sie noch auf der Ausgrabung entsorgt werden können. Dennoch sollen möglichst alle Informationen zu den Funden vorliegen, wie wenn sie physisch aufbewahrt worden wären. Wie soll das gehen und was kann man überhaupt herausfinden?
Zu allererst schnappt sich Linda Bürste und Schwamm, um den Stein zu reinigen. Ob man es glaubt oder nicht, das Waschen ist Lindas Lieblingsaufgabe. Beim Wegputzen der Erdkrusten kommen die grossen Überraschungen zum Vorschein: Werkzeugspuren, Verzierungstechniken, Mörtel- und Verputzreste, Brandverfärbungen und sogar Farbreste. Sie staunt immer wieder über die Geheimnisse, die ein einfacher Stein preisgibt. Der gereinigte Stein wird dann beschrieben. Sie dokumentiert einerseits die Form, um das Stück dem ursprünglichen Gebäude und dem spezifischen Platz am Gebäude zuzuteilen, andererseits die Bearbeitungsspuren, die wichtige Hinweise, etwa zur Datierung, liefern.
Natürlich fotografiert sie das Architekturfragment auch noch von allen Seiten. In Töss kommt zudem eine besondere Technik zum Einsatz, wofür sich Linda Hilfe von einem Experten holt. Von speziellen Stücken werden 3D-Modelle erstellt. Dank diesen kann man das Fundstück auch nach der Ausgrabung noch bequem vom Schreibtisch aus untersuchen. Linda staunt darüber, dass die Untersuchung eines Architekturfragments am Bildschirm oft sogar einfacher geht als am Original. Denn das Modell lässt sich mit ein paar Mausklicks in alle Richtungen drehen, was am Original enorme Muskelkraft benötigte. Zudem ist es am Bildschirm möglich, die Farbwerte auszublenden, sodass die Bearbeitungsspuren neutraler erscheinen.
Von diesem Kontrast ist Linda in ihrem Alltag besonders fasziniert: In einem Moment beschäftigt sie sich mit mittelalterlichen Handwerkstechniken, im nächsten kommen brandneue Visualisierungsmethoden zum Einsatz. Doch bevor sich Linda mit ihren Steinen im virtuellen Raum verliert, darf sie den letzten wichtigen Schritt nicht vergessen: Sie bricht mit dem Pickel eine Gesteinsprobe ab, damit Geologen später die Herkunft und Qualität des Steins bestimmen können. Das Objekt ist nun zerstört und muss entsorgt werden. Doch Linda hat ein ruhiges Gewissen, denn alle Daten sind vorhanden. Das ermöglicht auch künftigen Forschern, die Steine zu untersuchen.
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