Faszination Pfahlbauten – zwischen Fakten und Fantasie

Was wissen wir wirklich über das Leben in den prähistorischen Pfahlbauten? Und was ist vielleicht mehr Vorstellung als Wirklichkeit? Der Blogbeitrag geht der Faszination für die jungsteinzeitlichen Siedlungen am Zürichsee nach – zwischen Forschungsgeschichte, archäologischen Funden und der Macht der Bilder.

Die Entdeckung der Pfahlbauten am Zürichsee und des Pfahlbauphänomens generell verdanken wir unter anderem dem extrem niedrigen Pegel im Winter 1853/54. Die frühe Forschung interpretierte die charakteristischen Pfahlfelder als Fundamente von Siedlungsplattformen über dem Wasser. Dieselben Befunde wurden im 20. Jahrhundert zu ebenerdigen Seerandsiedlungen umgedeutet. Das Ringen der beiden Positionen wurde als sogenannter «Pfahlbaustreit» bekannt. Dieser schien in den 1980er-Jahren am Zürichsee zugunsten der ebenerdigen Bauweise entschieden, obwohl die junge Taucharchäologie und die süddeutsche Forschung drauf und dran waren, ein paar widersprechende Argumente zu entdecken. Doch im Hintergrund anderer Fragen wurde das Problem zunächst ausgesessen. Erst die Auswertung der Ausgrabung «Opéra» setzte es wieder auf die Agenda und entwarf ein Siedlungsbild, das den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht unähnlich ist. Doch wahrscheinlich ist das letzte Wort noch immer nicht gesprochen.

Die Macht der Bilder

Gebäuderekonstruktionen, abgeleitet aus dem archäologische Befund von Zürich-Opéra. Bild: UWAD AfS Zürich.

Die erste Begegnung mit den Pfahlbauten war früher das Schulwandbild und noch immer vermitteln Lebensbilder von dörflichen Szenen wohl die stärksten Eindrücke. Solche bildlichen Darstellungen prägen unsere Vorstellung davon, wie Pfahlbauten aussahen und was sich in ihnen abspielte. Sie bestimmen, was einem zum Begriff «Pfahlbauten» als erstes in den Sinn kommt. Die konkreten Darstellungen täuschen jedoch leicht darüber hinweg, wie wenig Gesichertes wir tatsächlich über die «Architektur» der Pfahlbauten und das Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner wissen.

Zeugnisse von Architektur und Lebenswelt

Mehrteilige Haustür aus Zürich-Opéra. Bild: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Um mehr über das Aussehen der Pfahlbauten und das Leben ihrer Bewohner und Bewohnerinnen zu erfahren, sind wir auf archäologische Funde angewiesen. Zu den absoluten Highlights der Ausgrabung «Opéra» unterhalb des Sechseläutenplatzes in Zürich gehört in dieser Hinsicht eine mehrteilige Türe. Zusammen mit einem einzigen weiteren Fund in Europa vermittelt sie eine Vorstellung davon, auf welches Lichtmass die Zugänge der Pfahlbauhäuser konstruiert waren. Zudem ist die Türe ein seltenes Zeugnis des hohen Stands der Zimmermannskunst damals – wir reden immerhin über die Steinzeit 3000 Jahre vor Christus.

Fashion 3000 BC

Fragmente eines Jungsteinzeitlichen Umhangs aus Zürich-Opéra. Bild: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Die Architektur ist nur eine Dimension der Annäherung. Eine weitere liegt im Blick auf die Lebenswelt. Dazu gehört unter anderem die Kleidung. Allerdings sind Textilfunde äusserst selten, da ihre Erhaltung ganz bestimmte Bedingungen voraussetzt. Dass bei der Ausgrabung am Sechseläutenplatz die Reste eines Mantels entdeckt wurden, ist daher ein Glücksfall. Bei näherer Betrachtung geben die unansehnlichen Fetzen feine textile Strukturen zu erkennen. Um die schlichte Eleganz der «Fashion 3000 BC» in den eher unansehnlichen Fetzen wirklich erfahrbar zu machen, müssen aber schon geschickte Rekonstrukteurinnen mit authentischem Rohmaterial ans Werk.

Kleines Objekt, grosses Kopfkino

Anhänger aus Eckzähnen von Bären und einem «Hundeartigen» aus Zürich-Opéra. Bild: Martin Bachmann, Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

Zum Tollsten, was die Archäologie zu bieten hat, gehören Funde, die lebendige und überraschende Vorstellungen anregen. Auf einen Bärenzahn-Schmuck aus dem Pfahlbau «Opéra» trifft dies bestimmt zu. Er stammt aus einer Zeit, als Bären in erheblicher Zahl durch Zürichs Wälder streiften. Wer sich damit schmückte, wollte sich mit einem Symbol für Stärke und Kraft auszuzeichnen. Dazu galt es jedoch erst einmal an den Zahn kommen. Und dafür gab es verschiedene Wege. Der einfachste: einen Bären im Winterschlaf zu erlegen. Heroischer ist die Vorstellung von «ehrlichen» Jägerinnen und Jägern mit Pfeil und Bogen, vielleicht sogar in verwegenem Ringen mit dem Raubtier. In welche Geschichte wir den Bärenzahn-Schmuck einbetten, bleibt letztlich unserer Fantasie überlassen.

Baukultur trifft Pfahlbauten

Mehr zur Grabung «Opéra», den faszinierenden Funden und fantasievollen Spekulationen zu den Pfahlbauten gibt’s an den Europäischen Tagen des Denkmals: Am Samstag, 13. September führt Adrian Huber durch die archäologischen Fenster beim Parkhaus «Opéra».

Alle Infos hier.

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Verfasst von:

Adrian Huber

Adrian Huber

Adrian Huber ist Teilbereichsleiter Urgeschichte bei der Archäologie und Denkmalpflege Kanton Zürich.

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